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"darf ich jetzt auch nicht mehr autobahn sagen?" - fragt mich jemand auf Twitter.
Hintergrund: Die Schüler-Union (CDU Schülerorganisation) hatte auf ihrer Homepage mit dem Satz"Jedem das Seine" für das dreigliedrige Schulsystem geworben.
und fügte hinzu: "Jedem das Seine" ist ein verdammt altes sprichtwort..."
Nun, Adolf Hitler hat ja tatsächlich vieles gesagt, was richtig war. Zum Beispiel: "Die Sonne scheint." oder "In Russland ist es meistens kalt." Und es gibt wirklich keinen Grund, solche Wahrheiten heute nicht mehr auszusprechen, nur weil sie ein Hitler auch mal gesagt hat.
Vieles andere was dieses Hitler und seine Anhänger gesagt haben, waren Lügen und Verleugnungen. Oft waren es auch Forderungen, die auf den ersten Blick vernünftig klangen, obwohl sich hinter ihnen andere Absichten verbargen. Das nennt man Propaganda.
Einige Aussagen, Texte und Filme der Nazis wurden in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg verboten. Einige, weil sie weiterhin für gefährlich gehalten wurden, andere weil sie als eine Beleidigung für die Opfer des Nazi-Terrors darstellen.
Der Ausdruck „Jedem das Seine“ geht bereits auf griechische Quellen zurück, die Verwendung im politischen und juristischen Sinne wird primär Cicero zugeschrieben. Pervertiert gebraucht wurde „Jedem das Seine“ dann von den Nazis, die es als Motto in das Eingangstor des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Buchenwald integrierten, und zwar so, das es von Innen zu lesen war.
Damit stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist ein solcher Ausdruck damit tabu? Oder kann er heute wieder problemlos verwendet werden?
Folgt man dem kommunikationswissenschaftlichen „Encoding & Decoding“ –Ansatz müssen zwei Ebenen betrachtet werden.
„Decoding“ beschreibt dabei, welche Gedanken, Empfindungen, Assoziationen beim Lesen eines Wortes, Ausdrucks oder Satzes beim Leser entstehen. Die Theorie betont, das dieses völlig unabhängig davon ist, was ein Autor aussagen wollte, da dessen Absichten ja erst mal unbekannt sind.
Da die Zielgruppe der Web-Seite der Schülerunion in der Regel keine Japaner oder Grönländer sein werden, ist es wahrscheinlich, das bei vielen halbwegs gebildeten Menschen im Zusammenhang mit dem Ausspruch „Jedem das Seine“ Assoziationen mit Nationalsozialismus und Konzentrationslagern entstehen. Da der Ausspruch sonst eher selten verwendet wird, erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit weiter. Bei dem Wort „Autobahn“ dagegen ist das kaum wahrscheinlich. es taucht fast in jeder Zeitungsausgabe in irgendeinem Kontext auf. Die Wahrscheinlichkeit, das es gedanklich mit den Nazis verbunden wird, ist sehr gering. Es ist also Möglich, das Worte und Ausdrücke historisch „verunreinigt“ werden und von ihrer ursprünglichen Bedeutung wenig übrig bleibt.
Ähnlich ist es ja auch beim Begriff „Kommunismus“. Von seiner historischen beabsichtigten Bedeutung in Sinne von Karl Marx als positive Utopie ist heute wenig übrig. Es schwingen unvermeidlich Assoziationen von Stalin, Stasi und Gulag mit.
Insofern ist es – unabhängig von moralischen Fragen – zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, das den Ausdruck „Jedem das Seine“ heute noch zu verwenden.
Kommen wir nun zum „encoding“, also der Frage, was uns die Verfasser der CDU Schülerorganisation sagen wollten, als sie den Ausdruck wählten. Da wir diese Absichten nicht kennen, müssen wir verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen.
1.) Gemeint war vielleicht die ursprüngliche Bedeutung, (nach Platon), wonach jeder das Seine (für die Gemeinschaft, den Staat) tun solle, und zwar in Art und Umfang so, wie es seinem Wesen, seinen Möglichkeiten und den individuellen Umständen entspricht. Ergänzend erklärte Platon, dass auch jeder das Seine bekommen soll und dass niemandem das Seine genommen werden soll (Quelle: Wikipedia). Ähnliche Ansichten vertritt übrigens auch Karl Marx im „Kommunistischen Manifest“.
Als Begründung für das dreigliedrige Schulsystem aus Sicht der CDU-Schülerorganisation scheint das weit hergeholt – aber vielleicht irre ich mich hier und sehe die Argumentationslinie nur nicht.
2.) Gemeint gewesen sein könnte auch, das die Einsortierung in die jeweilige Schulform danach erfolgen sollte, was einem die Eltern an Bildung mitgegeben haben und wie sehr man sich in der Grundschule angestrengt hat. Abgesehen davon, das mir keine Belege für eine sonstige Verwendung des Zitates in diesem Sinne bekannt ist, scheint mir das eine brutale Forderung gegenüber Grundschulkindern.
3.) Es könnte auch gemeint gewesen sein, das jeder und jede doch auf die Schulform gehen solle, die ihm / ihr entsprechen seiner / ihrer Herkunft gebührt. Also Arbeiterkinder auf die Hauptschulen, Angestelltenkinder auf die Realschulen und Akademiker-Kinder auf die Gymnasien. Eine Interpretation, die im Sinne einer konservativen Ideologie durchaus nahe liegt, die aber auch die Nähe zur Nazi-Ideologie aufzeigt. Denn die Nazis wollten mit dem – keineswegs zufällig gewählten Spruch am Eingang des Konzentrationslagers den Insassen ja gerade sagen, das sie dort hingehören, wo sie sind – und zwar Aufgrund ihrer Herkunft als Juden.
Insbesondere im Kontext solcher Meldungen: CDU nimmt NPD-Mitläufer wieder auf kann man diese Interpretation nicht völlig von den Hand weisen.
4.) Natürlich könnte es auch sein, das da einfach jemand gedankenlos einen Spruch auf die Webseite geschrieben hat. Das aber würde die Schüler-Union NRW politisch komplett disqualifizieren. Und zwar sowohl hinsichtlich der des Niveaus ihrer Führungskräfte, als auch hinsichtlich der Kontroll-Prozesse (wer darf was wo veröffentlichen). Es handelt sich ja schließlich nicht einfach um eine private Web-Seite, sondern um die offizielle Seiten der Jugendorganisation der NRW Regierungspartei. Und der Satz wurde ja nicht etwa entfernt, nachdem SU-Mitglieder protestiert hatten, sondern erst nachdem die Presse es entdeckt hatte.
Ich hoffe damit gezeigt zu, das bestimmte Sprüche nicht einfach ohne Rücksicht auf ihren historischen Kontext verwendet werden können, sondern das es vielmehr darauf ankommt, wer sie verwendet, was damit gesagt werden soll und welche Reaktion Worte, Ausdrücke und Sätze bei der Zielgruppe auslösen.
Mehr Infos:
Jedem das Seine! Geschichte eines Schlagworts