Spannende Zeiten! Die Veränderungen in Deutschlands Parteiensystem beschleunigen sich - dramatisch. Und zwar jenseits der üblichen Rechts-Links-Muster und noch deutlich dramatischer und schneller, als ich es in meinen beiden letzten Artikeln zum Thema ( Die Jugendwahl - ein politisches Orakel? v. 31.7.2010 und Analyse der U18 Wahlen v. 28. September 2009) vorrausgesehen habe (auch wenn ich tendenziell richtig lag).
Zuerst die Fakten: Bundesweit liegen die Grünen derzeit in den Umfragen um die 20% (Spanne: 17%-24%), die Linkspartei hat sich bei 10% etabliert. In diese Umfragen sind die Ereignisse in Stuttgart am letzten Donnerstag noch nicht eingeflossen.
In Berlin (der Bundeshauptstadt!) sind die Umfragen noch weitaus dramatischer (und zwar ohne ein Stuttgart 21 oder einen anderen politischen Skandal):
Quelle: wahlrecht.de
Die Partei der Kanzlerin ist in der Hauptstadt bei 16% angekommen, die Grünen sind mit 30% derzeit die stärkste politische Kraft. Die Linke ist konstant bei 15% und profitiert kaum von der Veränderung.
Ähnliches kommt aus Baden-Württemberg:
Quelle: wahlrecht.de
Es ist offensichtlich so, dass sich das klassische Bürgertum massiv von seinen ehemaligen Lieblings-Parteien abwendet und dabei kaum noch von Berührungsängsten vor den ehemaligen Ökos abgeschreckt wird.
Natürlich wird dieser extreme Ausschlag der öffentlichen Meinung so keinen dauerhaften Bestand haben und bis zur nächsten Wahl werden andere Themen von der Presse in den Mittelpunkt gestellt, bei denen die Regierung besser aussieht.
Trotzdem ist es bemerkenswert, das hier die Bindung an die klassischen Parteien extrem nachgelassen hat und insbesondere das Bürgertum seine Repräsentanten für Fehltritte bestraft.
Die CDU wird bestraft für die Laufzeitverlängerung & Stuttgart 21
Die SPD wird bestraft für Sarrazin
Die FDP wird bestraft für die Bestechung, Hotelsteuer und die asozialen Thesen von Herrn Westerwelle (und die Unterstützung des Militär-Putsches in Honduras)
Das moderne deutsche Bürgertum verabscheut Lobbyismus (CDU) und Käuflichkeit (FDP). Es akzeptiert zwar gewisse soziale Härten, lehnt aber Hetze gegen die Betroffenen (a la Westerwelle und Sarrazin) entschieden ab.
Das moderne deutsche Bürgertum will Reformen (denn dafür stehen die Grünen weiterhin), aber nicht um jeden Preis.
Es honoriert Idealismus und Streitbarkeit (noch wird auf grünen Parteitagen am heißesten diskutiert) aber fordert Kompromissbereitschaft im politischen Alltagsgeschäft: Stillstand aus ideologischen Gründen ist nicht aktzeptabel - aber unterlegene Minderheitspositionen werden wahrgenommen und honoriert.
Das moderne Bürgertum ist (wie die Grünen) nicht Technik-feindlich, aber Technik-kritisch. Technik, Fortschritt und Wachstum sind willkommen, aber nicht um jeden Preis.
Es erträgt auch den Konflikt zwischen militärischem Eingreifen aus humanitären Gründen und den schrecklichen Folgen, den dieses für jene haben kann, denen eigentlich geholfen werden soll - als Konflikt.
Insofern kann man die aktuelle Entwicklung als einen Sieg der bürgerlichen Vernunft über wirtschaftliche und politische Ideologien bezeichnen. Das Bürgertum hat sich sowohl vom Neo-Liberalismus, als auch von der Wachstums-Ideologie abgewendet. Es lässt sich nicht mehr so leicht mit Parolen und Ängsten ködern, sondern will mit Argumenten und Ergebnissen umworben werden.
Interessant ist auch, dass die FDP die rund 7%, die sie während der großen Koalition (vor allem) von der CDU gewonnen hat, komplett wieder verlor. Und zwar nicht zurück an die CDU, sondern an die Grünen. Und dies neue Offenheit wird zukünftig Lagerwahlkämpfe sehr erschweren. Denn wer sich einmal mit den Grünen identifizieren konnte, wird sich von jedem Frontalangriff nur abgeschreckt fühlen.
Wichtig ist aber: es handelt sich hier um keinen Linksruck, sondern um ein politischen Neuorientierung des Bürgertum. Diese Neuorientierung ist umkehrbar - nur weil sich die Bürger einmal für die Grünen entscheiden, werden dort nicht gleich zu Stammwählern. Das geht jedoch nicht mit Werbung, PR-Etats oder tollen Reden. Die Bürgerlichen haben erkannt, das CDU/FDP derzeit nur Marionetten von Industrie-Lobbys sind. Sei es Atomkraft, S21, Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen: Immer profitiert eine Industrie-Lobby, immer verliert die BürgerInnen.
Während ich das hier schreibe, werde ich auf die aktuelle DeutschlandTrend - Analyse der Tagesschau aufmerksam gemacht:
Dort heißt es - wie zur Bestätigung meiner Thesen:
In einzelnen Bevölkerungsgruppen ist der Anhängeranteil der Grünen sogar noch deutlich höher: 33 Prozent der leitenden Angestellten und Beamten, 28 Prozent der Freiberufler und Selbstständigen und ebenfalls 28 Prozent der Befragten mit höherem Schulabschluss (Abitur, Fachhochschulreife) würden am nächsten Sonntag grün wählen. Die Partei gewinnt damit gegenüber dem Vormonat drei Punkte hinzu.
Und während dort "nur" 54% gegen Stuttgart 21 sind, sind immerhin 77% dafür die Bauarbeiten zu unterbrechen und 78% haben Verständnis für die Demonstranten. Und 80 % der Befragten meinen, "wichtige Entscheidungen werden bei uns getroffen, ohne dass die Interessen der Menschen wirklich berücksichtigt werden". Die CDU vertritt in dieser Frage lediglich noch eine Minderheit.
Besonders bedenklich für die CDU: Ihren stärksten Rückhalt hat die Partei inzwischen dort, wo eigentlich die Linkspartei punkten sollte: Dank der dauernden Propaganda der Hetz-Zeitung sind weiterhin die Ungebildeten am verlässlichsten auf Seiten der CDU. Obwohl die CDU/FDP-Politik ihnen am meisten schadet. Deshalb will die CDU auch unbedingt am bestehenden Bildungssystem festhalten.
Hier wäre der Ansatzpunkt der Linkspartei: Wenn sie es sich endlich um die Arbeiter und Arbeitslosen als Zielgruppe kümmern würde, statt Studenten, Intellektuelle und DDR Nostalgiker zu umwerben, könnte sie von der derzeitigen Regierung profitieren und einen dauerhaften Wandel in Deutschland auslösen. Dazu reicht es aber nicht, Pressemitteilungen zu verfassen. Dazu muss man vor Ort gehen, den Leuten zu hören, den Einfluss der Boulevard-Presse zurückdrängen und Interessenspolitik beginnend in den Stadtvierteln und Städten machen.
Das die SPD nicht profitiert ist kein Wunder: Man kann nicht erst in der Regierung die Sachen mittragen und dann in der Opposition dagegen sein. Insbesondere, wenn das Personal das gleiche bleibt. Die SPD hätte es in der Hand gehabt, den Atomausstieg festzuschreiben (wollte sie nicht), die SPD hätte Hartz4 gleich menschenwürdig gestalten können (wollte sie nicht), die SPD hätte Stuttgart21 in einem frühen Stadium verhindern können (wollte sie nicht). In Berlin und Baden-Württemberg bekommt wie nun dafür die Quittung (Berlin: 26%, BaWü: 17%, in beiden fällen weniger Prozente als die Grünen).
Und die Piratenpartei? Trotz ihres großen Engagements gegen Atomenergie und Stuttgart21 und ihren regelmäßigen Hinweisen, dass die Grünen an vielen Untaten der SPD als kleiner Koalitionspartner beteiligt waren (und in Hamburg an Untaten der CDU beteiligt sind): Den Menschen ist auch bewusst, das die Grünen damals nur der kleine Koalitionspartner waren und vieles nur zähneknirschend gegen die eigene Überzeugung mitgetragen haben.
Und: Bei den nächsten Wahlen werden die Menschen vor allem die CDU-FDP-Regierungen loswerden wollen. Dabei sind die Piraten ein gewisser Unsicherheits-Faktor.
Die große Zeit der Piratenpartei wird kommen, wenn die Grünen wieder an der Regierung beteiligt sind und vor allem wenn diese Regierungen unter grüner Leitung sein sollten: Denn dann können sie sich - vor allem bei Groß-Projekten - nicht mehr hinter Koalitionszwängen verstecken. Und dann brauchen die bürgerlichen WählerInnen eine Opposition, die weder eine Rückkehr zur Politik der Industrie-Lobbys will, noch ein Bekenntnis zum Sozialismus erfordert.
Insofern haben die Piraten allen Grund, sich über die Erfolge der Grünen zu freuen und ihnen auch weiter die Daumen zu drücken. Langfristig ist ihre Zukunft ja sowieso gesichert.
Wird diese Entwicklungbis zur nächsten Bundestagswahl (in drei Jahren) Bestand haben? Das wird davon abhängen, wie lange die aktuellen Themen die Politik bestimmen. Ein Abrücken der CDU von der Laufzeitverlängerung und Stuttgart 21 könnte das Bild normalisieren. Bei der Gesundheitsdeform wird es darauf ankommen, sachlich darzustellen, das die Einschnitte im Geldbeutel der BürgerInnen zugunsten der Konzene und dier Gesundheits-Industrie erfolgen. Und welche Alternativen existieren.
Ähnliches gilt für neue Themen. Denn das Kalkühl von CDU und FDP ist klar: Jetzt den BürgerInnen Schmerzen zufügen, um diese dann rechtzeitig vor den Wahlen mit kleinen Geschenken zu versüßen, in der Hoffnung, das die Schmerzen dann vergessen werden.
Siehe auch weitere Artikel in der Kategorie "Parteien & Wahlen",
zum Beispiel:
Was Piraten von den Grünen lernen können
Hotelspendenskandal: Auch CSU ließ sich bestechen
Abrechung mit den Nicht-Wählern und denen, die mit ihrer Zahl argumentieren
Das Wahlergebnis in historischer Perspektive
Siehe auch:
Online-Petition gegen Laufzeitverlängerung: Zu unbekannt? Scheitern droht!
Bundestag & Internet-Sicherheit: fail
Augenzeugenbericht von Regisseur Volker Lösch zur Polizeigewalt in Stuttgart (Textversion)
Warum eine Petition zum Thema Laufzeitverlängerung ?
Wenn du diesen Artikel gut fandest, dann abonniere doch unseren Newsletter (rechts) oder unseren Feed. Beides hält dich schnell und kostenlos auf dem laufenden. Oder folge uns auf Twitter unter @direkteaktion (viele Infos) und / oder @action_pur (nur Mitmach-Aktonen).
Auf identi.ca findest du uns auch unter @direkteaktion.